Es ist ein kalter Winter, damals in Ost-Berlin 1986. Der kleine Ralf ist auf dem Weg zur Schule. Ein starker eisiger Wind weht in sein Gesicht. Der Bürgersteig ist glatt und vereist. An einer Stelle ist er uneben, Ralf verliert sein Gleichgewicht und rutscht aus. Mit seinem Gesicht aus voller Kraft auf die harten, vereisten Betonpflaster.
Es wird schmerzhaft und blutig. Er verliert fast alle Zähne. Der kleine Ralf schämt sich, möchte in diesem Zustand nicht zur Schule. Die Zähne müssen durch Implantate ersetzt werden. Die Prozedur ist sehr teuer. Es muss schnell gehandelt werden.
Verantwortlich für diesen Schaden ist das Kombinat der Stadt Berlin, das Eis und Schnee in den Straßen nicht ordentlich entfernt hatte. Die Verantwortlichkeit ergibt sich aus der so genannten Verkehrssicherungspflicht. Dies ist eine deliktsrechtliche Verhaltenspflicht zur Sicherung von Gefahrenquellen, deren Unterlassen zu Schadensersatzansprüchen nach § 823 ff. BGB führt. Juristisch gesagt bedeutet dies, dass Derjenige, der eine Gefahrenquelle in seinem Verantwortungsbereich für Dritte schafft oder unterhält, die Pflicht hat, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um Schäden anderer zu verhindern (Palandt, 69. Auflage, § 823 Rn. 45).
Bei Straßen oder Bürgersteigen ist immer der Eigentümer verantwortlich. Hier war es die Stadt Berlin, bzw. die für die Räumung beauftragte Körperschaft.
Nach ständiger Rechtssprechung gehört zur Verkehrssicherungspflicht die Räum- und Streupflicht: Soweit sie den Gemeinden obliegt, haben sie die erforderlichen organisatorischen Maßnahmen zu treffen und den Winterdienst zu überwachen. Inhalt und Umfang der Räum- und Streupflicht bestimmen sich nach den Umständen des Einzelfalls. Abzustellen ist u. a. auf Art und Bedeutung der Zuwegung, dass Maß der Gefährlichkeit und insbesondere auch die konkrete Verkehrsbedeutung (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 10.10.2000, Az.: 13 U 24/00
Die weitere Verpflichtung der zur Räumung beauftragten Körperschaft folgt aus de sog. Übernahmehaftung. Die Verkehrspflicht resultiert aus der freiwilligen Übernahme einer mit Rechtsgüterschutz oder –gefährdung verbundenen Aufgabe. Der Tragende Zurechnungsgrund ist hier, dass derjenige, der vertraglich eine Aufgabe übernimmt, die eine gesteigerte Verantwortung für die Rechtsgüter Dritter mit sich bringt, dem Vertrauen gerecht werden muss, die Dritte berechtigterweise mit dieser Aufgabenwahrnehmung verbinden (J.Lange/Schmidtbauer in juris PK-BGB 5. Auflage 2010, Rn. 86).
Auch das Land Berlin kann in solchen Fällen zur Haftung gezogen werden. Die zur Stadtreinigung beauftragte Körperschaft ist nämlich ein Verrichtungsgehilfe i.S.d. § 831 BGB. Voraussetzung ist allerdings, dass das Land Berlin bei der Auswahl dieses Gehilfen die erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Dies ist in der Regel nur schwer nachweisbar.
Im vorliegendem Fall hat nach einigem Hin- und Her dann auch die DDR bzw. die Stadt Berlin einen Schadenersatzanspruch dem Grunde nach anerkannt und übernahm die Kosten für die Zahnbehandlung des kleinen Ralf.
1999 mussten dann die Zähne noch einmal saniert werden, der junge Mann war inzwischen 30 Jahre alt. Nach einem Rechtsstreit konnte der Rechtsnachfolger verpflichtet werden, für den Schaden von 1986 einzustehen.
2011 wiederholte sich die Situation. Wieder wurden Schäden an den Zähnen entdeckt. Dies lag daran, dass im Jahr 1986 die Zahnersatztechnik noch nicht so fortschrittlich war. Wieder weigerte sich die Rechtsnachfolgerin die Kosten zu übernehmen. Begründet hat sie dies damit, dass diese Schäden doch nicht mehr Folge des Unfalls, der ja so viele Jahre zurücklege, sind. Ein weiterer Rechtsstreit musste geführt werden. Durch ein ärztliches Gutachten konnte bewiesen werden, dass auch hier der Unfall kausal für die weiteren Beschädigungen ist. Nach dem Schadensrecht übernimmt der Schädiger die Haftung für alle Schäden die unmittelbar auf die Verletzung der Pflicht zurückzuführen sind (§§ 249 ff BGB). Hier hätte der Ralf keine Probleme mit seinem Zahnersatz gehabt, wäre es damals nicht zu diesem Unfall gekommen.
Daraus kann man lernen, dass ein Fehlverhalten eines anderen zu einem jahrelangen Prozess führen kann und dass es wichtig ist, konsequent die Ansprüche zu vertreten, um diese auch noch nach Jahrzehnten durchsetzen zu können.
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